Er liebt Elektrobeats genauso wie Elektrochemie: Rainer Waser passt in keine Schublade. Der 68-jährige Wissenschaftler ist Visionär und Tüftler zugleich – jemand, der über Grenzen einzelner Fächer hinausblickt, der mitreißt, ansteckt und bei dem Freude und Spaß nicht zu kurz kommen dürfen.
Rainer Waser ist Direktor des Peter Grünberg Instituts für elektronische Materialien (PGI-7) und Professor an der RWTH Aachen. Er gilt als einer der meistzitierten Vertreter seiner Forschungsgebiete.
Wissenschaft(ler)
mit Vergnügen
Er liebt Elektrobeats genauso wie Elektrochemie: Rainer Waser passt in keine Schublade. Der 68-jährige Wissenschaftler ist Visionär und Tüftler zugleich – jemand, der über Grenzen einzelner Fächer hinausblickt, der mitreißt, ansteckt und bei dem Freude und Spaß nicht zu kurz kommen dürfen.
Sein erstes Chemie-Labor in Heusenstamm wurde gegen seinen Willen geschlossen – damals sprang im elterlichen Souterrain der Funke nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes über, sondern zündete auch im Geiste: Der 15-jährige Rainer Waser wollte Chemiker werden, musste seinen Eltern aber nach dem unerwünschten realen „Funkenflug“ versprechen, dass er sein „Kellerlabor“ erst wieder eröffnet, wenn er tatsächlich Chemie studiert. „Und damit habe ich dann 1974 begonnen“, erinnert sich der 68-Jährige. Und das Labor einen Raum weiter neu eröffnet – in der etwas größeren Kellertoilette: „Da hatte ich gleich Wasser und elektrische Anschlüsse
KEINE ANGST VOR GRENZEN
Über viele Jahre experimentierte er in diesen vier Wänden; tüftelte, bohrte und baute Versuchsstände auf, aber auch elektronische Systeme wie Verstärker und Lautsprecher. „Da habe ich mein ganzes Taschengeld investiert“, sagt Waser und lächelt – etwas, das der Direktor des Peter Grünberg Instituts gern und viel tut: „Wissenschaft mit Vergnügen“, lautet sein Motto.
Die Anekdote aus Wasers Jugend offenbart viel über den erfolgreichen Naturwissenschaftler und Ingenieur, der 2014 für seine Forschung zu resistiven Schaltern als Speicher in der Informationstechnologie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis erhielt: Waser ist jemand, der gerne Disziplinen neu zusammendenkt, der keine Angst hat, Grenzen zu überschreiten, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Lösungen: „Interessante Forschung findet oft an den Schnittstellen der Disziplinen statt“, resümiert Waser.
Bestes Beispiel dafür ist seine Forschung zu memristiven Bauelementen. Diese weisen ähnliche Eigenschaften wie Nervenzellen im menschlichen Gehirn auf und gelten daher als vielversprechende Basis für neuromorphe Schaltungen. Mit diesen ließen sich energieeffiziente Rechner nach dem Vorbild des Gehirns aufbauen, wie man sie etwa für KI-Anwendungen benötigt. Waser hatte herausgefunden, wie die Bauelemente auf atomarer Ebene funktionieren und damit den Grundstein für deren technische Nutzung gelegt.
Klingt futuristisch, aber der zweifache Familien- und vierfache Patchwork-Vater war und ist seiner Zeit schon immer ein Stück voraus: Für seine Promotion Anfang der 1980er Jahre an der Technischen Universität (TU) Darmstadt baute er einen vollautomatischen, computergesteuerten Messstand: „Heute ist das Standard, aber damals gab es das noch nicht“, erzählt Waser. Er lässt sich aus England, wo er als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes in Southampton zwei Auslandssemester verbracht hatte, einen Z 80 kommen: „Der Computer bestand aus einer einzigen riesigen Platine und tausend Einzelteilen – ohne Bildschirm oder Speicher“, erinnert er sich. Selbst die Software muss der Doktorand selbst schreiben – in Maschinensprache.
KEIN GEDANKE ANS SCHEITERN
Ans Scheitern verschwendet er dabei keinen einzigen Gedanken. Am Ende fehlt nur ein elektrochemisches Messsystem, ein sogenannter Potentiostat, – 5.000 DM soll er kosten – Geld, das das Institut nicht aufbringen kann. Waser wettet mit seinem Doktorvater Konrad Georg Weil um ein Essen, dass es ihm binnen einer Woche gelinge, das Gerät selbst zu bauen. Der Doktorvater verliert. „Ich habe kaum geschlafen und rund um die Uhr in meinem Souterrain-Labor gebohrt, gelötet und gemessen. Die Platinen habe ich mit der Höhensonne meiner Mutter belichtet. Klingt schon ein bisschen verrückt“, erzählt Waser. Geht nicht, gibt es in Wasers Leben nicht. Spricht er über seine Forschung, tut er es mit einer Begeisterung, der sich niemand entziehen kann – immer mit einem leisen Lächeln oder Schmunzeln, höflich, nie aufdringlich, aber voller Energie und Tatendrang
Seine Begeisterungsfähigkeit endet jedoch nicht mit seiner Liebe zu Elektrochemie und Physik: So nutzte er die Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn, um Vorlesungen in Frankfurt und Darmstadt zu besuchen: Quantenmechanik, Philosophie und Musiktheorie – der wissbegierige, junge Waser nahm alles mit – „auch wenn vieles damals weit über meinem Kenntnisstand lag.“ Ganz nebenbei schrieb er in jener Zeit eine Facharbeit zur Soziologie der Musik, die später auf europäischer Ebene ausgezeichnet wurde. Überhaupt Musik: Auch da lässt sich Waser keiner Schublade zuordnen. Der fast 1,90 Meter große Mann hört mittelalterliche Klänge ebenso gern wie Metal, Klassik, elektronische Beats oder Weltmusik. Sitzt er in seinem Aachener Home-Office am Rechner, hört er dabei stets Musik.
ENTSPANNT DIE 100 ANSTEUERN
2024 ist offiziell Schluss. Seiner „After Work“-Zeit sieht er gelassen entgegen: „Niemand hält mich ja davon ab, weiterzumachen. Aber was ich konkret weitermache, weiß ich noch gar nicht.“ Auf jeden Fall will er der Philosophie mehr Zeit widmen. „Und mehr Sport steht auch auf dem Plan“, sagt Waser, der einen Drachenflugschein besitzt und Ski- und Rollschuhlaufen kann. Momentan beschränkt er sich auf wenige Minuten Trampolinspringen im eigenen Haus – natürlich zu Musik: „Da bringe ich binnen kürzester Zeit meinen Puls einmal am Tag gezielt auf 130. Das ist gesund und schont die Gelenke.“ Dabei hat er auch sein langfristiges Ziel im Kopf: Als 100-Jähriger will er nämlich eine große Geburtstagsparty schmeißen, bei der er die Musik auswählt und tanzt: „Notfalls auch mit Hilfe eines Exoskeletts“, sagt Rainer Waser und lächelt. Zuzutrauen ist es ihm.
KATJA LÜERS
Neuromorphes Computing:
So effizient werden wie das Gehirn
Memristive Speicherbauelemente, auch Memristoren genannt, gelten als äußerst schnell, energiesparend und lassen sich sehr gut bis in den Nanometerbereich miniaturisieren.
Mehr Leistung, weniger Energieverbrauch – so stellen sich Forscher:innen den Computer der Zukunft vor. Ermöglichen soll das eine neue Art von Rechnern: die neuromorphen Computer. Kernstück sind sogenannte memresistive Bauteile, die nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns arbeiten.
Unser Gehirn benötigt für bestimmte Aufgaben, etwa das Erkennen von Mustern und Sprache, nur rund ein Zehntausendstel der Energie, die ein herkömmlicher Rechner dabei verbraucht. Einer der Gründe: In den Computern sind Speicher und Prozessor voneinander getrennt, es müssen ständig große Mengen an Daten hin- und hertransportiert werden. Das kostet Energie und bremst die Berechnungen aus. Anders im Gehirn: Dort wird direkt im Datenspeicher, den biologischen Synapsen, gerechnet. Memresistive Bauteile, zu deren Entwicklung Rainer Waser mit seinen Teams in Jülich und an der RWTH Aachen maßgeblich beitragen hat, greifen dieses Prinzip auf. Sie können Informationen über einen einstellbaren Widerstandswert speichern und zugleich verarbeiten. Außerdem sind die Bauteile anschlussfähig an herkömmliche Mikroelektronik und lassen sich sehr gut bis in den Nanometerbereich miniaturisieren. Von entsprechenden neuromorphen Systemen könnten insbesondere Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen profitieren.
Im Projekt NEUROTEC, das Rainer Waser koordiniert, arbeiten die Partner an praxisorientierten Demonstratoren für KI-Anwendungen. Mit ihnen wollen sie zeigen, wie viel effizienter neuro-inspirierte KI sein wird. Das Projekt ist Ende 2021 in die zweite Phase gegangen und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis 2026 mit 36,5 Millionen Euro gefördert.